100 Prozent Erneuerbare Energien sind möglich

Veröffentlicht am 03.12.2021 | Lesedauer: 7 Minuten 

Von Jochen Clemens  Zeitschrift DIE WELT 

WELT Transformations-Gipfel 2021 (v.l.): Moderator und WELT- Redakteur Daniel Wetzel mit Björn Peters, Mitbegründer von Dual Fluid, Robert Schlögl, Gründungsdirektor Max-Planck-Institut für chemische Energiekonversion, Jörg Rothermel vom Verband der Chemischen Industrie, Hans-Josef Fell, Präsident der Energy Watch Group, und Olivia Henke, Vorständin der Stiftung Allianz für Entwicklung und Klima 

Quelle: Philip Nürnberger

Das Klima retten und das Überleben der Menschheit sichern? Das kann nur mit einem radikalen Umbau der Energieversorgung gelingen, meinen Fachleute. 

 Die Klimakonferenz von Glasgow endete vor Kurzem mit positiven Absichtserklärungen. Ob sie befolgt werden und sich die Erderwärmung noch auf die im Pariser Abkommen von 2015 avisierten 1,5 Grad beschränken lässt, muss sich zeigen.

Auch der künftigen Bundesregierung steht der Praxistest noch bevor. Sie muss nicht nur die festgefahrene nationale Energiewende wieder in Fahrt bringen, sondern den Kampf gegen den Klimawandel auch international glaubwürdig verankern. 

Auch die Diskutanten des Panels „Klima im Wandel – die klimapolitische Agenda für die neue Bundesregierung“ blickten über den deutschen Tellerrand hinaus. So unterschiedlich die Perspektiven waren, so sehr herrschte doch in einem Punkt weitgehend Einigkeit: „Yes, we can.“ Eine weltweite Transition zu ausschließlich Erneuerbaren Energien ist machbar.

Davon ist Hans-Josef Fell, Initiator und Präsident der Energy Watch Group, überzeugt. Auf die Frage von WELT-Moderator Daniel Wetzel, ob es gelingen könnte, den heutigen Ökostromanteil in Deutschland von 45 Prozent bis 2030 auf 65 Prozent oder noch darüber zu steigern, antwortete Fell: „Wir müssen auf 100 Prozent Erneuerbare Energien kommen und bis 2030 vollständige Versorgung nur mit Erneuerbaren Energien über alle Energiesektoren hinweg erreichen – Strom, Wärme, Mobilität und Industrieproduktion. Und ja, das ist machbar.“ 

Klimaschutz ist keine finanzielle Belastung

Für die erforderliche Versorgungssicherheit müssten die volatilen Hauptquellen Sonne und Wind mit weiteren Erneuerbaren wie Wasser, Bioenergie oder Geothermie ergänzt werden, deren Produktionsmengen verlässlicher und besser einzuschätzen seien.

Mit der Energy Watch Group habe man im Frühjahr eine Studie vorgelegt, „in der wir technisch und ökonomisch simuliert haben, wie ein zu 100 Prozent vollversorgendes Energiesystem in Deutschland aussehen könnte – und siehe da: Es ist realisierbar.“ 

 Nicht nur das: „Es ist ökonomisch sogar vorteilhafter gegenüber dem, was wir heute haben. Es ist nicht mehr so, dass Klimaschutz eine finanzielle Belastung ist. Heute sind selbst Erneuerbare Energien inklusive Investitionen in Speicher und Digitalisierung wettbewerbsfähig mit den konventionellen Energien.“ 

Das Beharren auf dem alten System mit fossiler und auch atomarer Energie sei die wahre Belastung der Ökonomie, „ganz unabhängig von schädlichen Belastungen und deren Auswirkungen auf Klimawandel und Erderwärmung“. 

Kosten für Industriestrom spielen entscheidende Rolle

Mit Hunderten Forschern habe man als Energy Watch Group im Frühjahr dieses Jahres eine Erklärung veröffentlicht, die besage: „Auch weltweit kann man bis 2030 die gesamte Energieversorgung auf 100 Prozent Erneuerbare Energien umstellen. Es braucht nur eine einzige Bedingung: politischer und gesellschaftlicher Wille.“ Der aber sei nicht überall vorhanden.

 Ob er diese Transformation so mittragen könne, würde Jörg Rothermel als Vertreter der chemischen Industrie gefragt, die ein gewichtiger CO2-Emittent ist. Schließlich sei die Industrie bisher etwa bei Ökostromkosten entlastet worden, CO2-Zertifikate und Berechtigungen habe es gratis gegeben, so Daniel Wetzel. 

Man habe es selbst gerade alles für sich durchgerechnet, erklärte Rothermel: „Der Weg in die Treibhausgasneutralität ist möglich,“ sagte der Abteilungsleiter Energie, Klimaschutz und Rohstoffe beim Verband der Chemischen Industrie. Um das umsetzen zu können, „benötigen wir aber wesentlich mehr Energie als wir heute einsetzen.“ 

Deshalb spielten die Kosten für Industriestrom eine entscheidende Rolle. Wenn man mit der Umstellung auf Versorgung mit rein Erneuerbaren Energien weiterhin international konkurrenzfähig sein wolle, „ohne über massive Subventionen am Staatstropf zu hängen, müssen wir mit einem Strompreis von vier Cent arbeiten“, so Rothermel. 

Das sei etwa halb so teuer wie heute. Und ob man damit tatsächlich hinkäme, sei noch gar nicht sicher. Die aktuellen Befreiungen und Entlastungen rechtfertigte er so: „Die sind wichtig, um das, was wir momentan an Produktion haben, überhaupt erhalten zu können.“ 

Energiewende muss auf der ganzen Welt stattfinden

Es reiche aber nicht aus, um gleichzeitig in die neuen Technologien investieren zu können. Hans-Josef Fell hatte da eine erfreuliche Botschaft nicht nur für die chemische Industrie. Über Berechnungen der Energy Watch Group sehe man, „dass die vier Cent für die Industrie möglich sein werden, vor allem über den dezentralen Ausbau“, denn der sei kostengünstiger als der Bau großer Leitungen. „Die werden wir auch brauchen. Wir glauben aber, dass das teurer ist als eine dezentrale Erzeugung hier in Deutschland.“

Robert Schlögl betonte, dass es nicht reiche, nur über die Erzeugung von grüner Energie nachzudenken. „Wir brauchen nicht nur Strom. Mehr als drei Viertel der Energie sind andere Energieformen. Die müssten alle elektrifiziert werden. Das ist ein erheblicher Aufwand“, sagte der Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr. „Das ist nicht grundsätzlich unmöglich.“ 

Das Ganze müsse so gespeichert werden, dass eine verlässliche Versorgung garantiert sei. „Diese Mengen lassen sich nicht mit Batterien speichern, das wird man mit Molekülen speichern müssen“, also mit Wasserstoff und dessen Derivaten. Das könne man zwar in Deutschland herstellen, doch sei es sehr ineffizient. 

 Auch sei zu überlegen, dass eine Energiewende nur hierzulande nicht genüge. „Es hilft nur, wenn eine Energiewende auf der ganzen Welt stattfindet.“ Man müsse global, zumindest aber europäisch arbeitsteilig vorgehen und das Speichern über Moleküle in viel größeren Dimensionen angehen. Ansonsten würde Deutschland die wohl teuerste Energiewende der Welt haben, die nicht viele Nachahmer finden würde.

Transformation in Entwicklungsländern befördern

Dies war das Stichwort für Olivia Henke, Vorständin der in Berlin ansässigen Stiftung Allianz für Entwicklung und Klima. Sie sieht die Glasgow-Konferenz positiv, vor allem bezüglich eines transparenteren Regelwerks für den internationalen Handel mit CO2-Zertifikaten. „Ich finde, die Klimakonferenz hat da ein sehr starkes Signal gesetzt. Für den Handel wurden die Regeln ausdifferenziert, die seit Kyoto existieren. Wir unterstützen, dass man über Klimaschutzprojekte im globalen Süden seine CO2-Emissionen ausgleichen kann, weil wir davon überzeugt sind, dass man so die Transformation in Entwicklungsländern befördern kann.“

Der vielleicht wichtigste Punkt sei, dass sich bei einem weiteren Wachstum der Weltbevölkerung – die UN-Prognosen gehen von einer Steigerung von derzeit 7,9 auf 8,5 Milliarden Menschen bis 2030 und 10,9 Milliarden bis zum Jahr 2100 aus – so der Zugang zu Energie für möglichst viele Menschen bewerkstelligen lasse. „Wenn man den Samen der Erneuerbaren Energien sät, überspringen die Entwicklungsländer die Kohlephase“, hofft Olivia Henke. 

Die Außenseiterrolle in dieser Diskussionsrunde kam Björn Peters zu, Mitbegründer und Finanzchef des Start-ups Dual Fluid. Das deutsch-kanadische Unternehmen will Kernkraft neu erfinden und setzt auf innovative Technik und Konzepte. Das schlechte Image der alten Atommeiler verhindere, dass man in Deutschland unbefangener mit dieser Energieform umgehen könne. 

 „Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass wir hier eine sehr nationale Debatte führen“, so Peters. Immer wieder höre er, dass in vielen anderen Ländern die Versorgungssicherheit ganz oben auf der Prioritätenliste stehe. „Das spräche für Kernkraft.“ 

Innovative Konzepte für Kernkraftprojekte

Er gab zu, dass die „zwei, drei europäischen Projekte in der Tat völlig aus dem Kostenrahmen gelaufen sind, aber wenn man sich die Kernkraftprojekte weltweit anschaut, wird man merken, dass der Median der Neubauprojekte bei ungefähr 3,50 bis vier Dollar pro Watt liegt. Das ist für ein Kraftwerk, das eigentlich immer produzieren kann, sehr günstig.“

Angesichts der baldigen Abschaltung der letzten sechs verbliebenen Anlagen in Deutschland – drei Ende dieses Jahres, die restlichen drei Ende 2022 – warb Peters für eine neue Generation von Kernkraftwerken. Für kleine modulare Reaktoren hätten etwa schon die USA und Kanada „ambitionierte Programme zur Förderung“ aufgesetzt. 

„Die haben den Vorteil, dass sie im Werk komplett fertig produziert und dann im Lastwagen angeliefert werden können. Die sind alle gleich.“ Daraus ließen sich nicht nur erhebliche Kosteneinsparungen generieren, sondern auch viel kürzere Bauzeiten und Genehmigungsabläufe erreichen. „Das ist die Zukunft, wenn man außerhalb von Deutschland schaut.“

Robert Schlögl ist dem gar nicht abgeneigt, ist doch Kernenergie unbestritten eine saubere Energie – zumindest hinsichtlich ihrer 100-prozentigen CO2-Neutralität bei der Erzeugung. „Es gibt neue Technologien, und die sind sicherheitstechnisch anders zu bewerten. Atomenergie ist nicht grundsätzlich schlecht. Allerdings glaube ich, dass der Beitrag, den sie im Rahmen der Gesamtaufgabe, die wir vor uns haben, leisten kann, nicht so groß sein wird.“ Für Nischenanwendungen sei sie aber durchaus eine Alternative, Mini-Atomkraftwerke halte er „für eine ziemlich gute Idee“. Man könne sie insbesondere für den Spitzenlastausgleich einsetzen.

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